Offiziell ist die 1. Welle wohl vorbei. Nach vielen Wochen Homeoffice hat die Knochenmühle angeordnet, dass wir uns alle doch wieder in dem wunderschönen, neuen Verwaltungsgebäude einzufinden haben. Großraumbüros, weite Hallen, viele Kolleginnen und Kollegen, der liebste Chef der ganzen Welt von morgens bis abends direkt mir gegenüber an einer Vierertischgruppe. Wie habe ich das vermisst! Den ganzen Tag seine liebe und angenehm leise Stimme zu hören. Sein zurückhaltendes Kauen, Schmatzen, Röcheln, Stöhnen beim Essen seiner mal 300 Pfund gemessenen Frühstücksmenge. Aber auch seine Gesprächspartner zu hören, wenn der liebste Scheffe der Welt mit der immer unzureichenden Technik kämpft und sein Headset, seine PC-Lautsprecher, seine Monitor-Lautsprecher, sein Telefon – tja, alles gleichzeitig laut zugeschaltet ist, wenn er telefoniert. Der Hit! Jeden Tag, von morgens bis abends.
Ich wollte mir des Morgens mal eine beruhigende Ziggi gönnen und drehte die großartige Designerdrehtür, um nach draußen in den herrlichen Raucherpavillon zu kommen. Durch die Drehtür erblickte ich das sowas von angenehme und überaus liebe (Masken) Gesicht der Frau des Betriebsleiters. Sie wollte rein. Ich raus. Kein Problem, gelle? Nach der wohlverdienten Kippe am Arbeitsplatz angekommen, rauschte eine Rund-Email vom Betriebsleiter rein: „An die Belegschaft zur Erinnerung: An Engstellen, an denen keine 1,5 Meter Abstand eingehalten werden kann, ist eine Mund-Nasen-Maske anzulegen!“. Tja. Ich wusste das sowas kommt. Eine meiner Lieblingskolleginnen. Als ich sie mal Sonntagmorgens beim Anstehen beim Bäcker sah, drehte ich mich um und ging ohne Backwaren nach Hause, in der Hoffnung ich hätte noch Coppendings und Miese im Kühler.
Ein lautes Geschrei, Gefauche, Gebrüll und Geheule in der Straße meiner wohlgepflegten Reihenhaussiedlung – ich frage Sie: Wie soll man da in Ruhe mal eine quarzen können? Ich wollte schon die Bullen rufen, das Ordnungsamt und hielt auch schon die neuen Pandemiegesetze in der Hand als ich sah was los war: Zwei Damen mit Fotzenleckern an der Leine, die alle vier brüllten und heulten und kläfften, dazwischen die schwarz-weiße Mistviehkatze mit einem Buckel bis zum Himmel, zwischen den Hunden her tänzelnd wie Fred Astaire und freundschaftliche Hiebe auf die feuchten Nasen austeilend. Ein Bild für die Götter! Herrlich! Es gibt Momente, wo ich das Drecksvieh doch ein wenig mag.
Ich habe einen Freund und Kollegen mit dem ich mich draußen im Pavillon kompetent und überaus unterhaltsam über die Schlechtigkeiten der Welt, die Abgründe der menschlichen Natur, Musik und dem lokalen und globalen Narrenschiff unterhalten kann.
Er ist jünger als ich, aber mindestens unser Augenlicht verband uns letztes Jahr mehr als die wichtigen Dinge im Leben. Denn ich konnte letztes Jahr plötzlich nicht mehr richtig sehen – grauer Star. Meine Augen haben je eine neue Linse erhalten, soweit gut. Doch er hat eine angeborene Augenkrankheit, bei der er schon seit jungen Jahren immer mehr sein Augenlicht verliert. Fast blind, mittlerweile. Es gibt bis jetzt keine Medizin, keine OP die dem Abhilfe schaffen könnte. Jedoch habe ich den Eindruck, dass sein Geist, sein Herz und Verstand immer schärfer, je unschärfer sein Augenlicht wird.
Das erinnert mich an meine Kind- Jugendzeit – der Dirk. Er hatte das gleiche Augenleiden wie M. und war einiges älter als ich. Ungefähr so alt wie mein ältester Bruder. Er hatte eine wunderhübsche junge Freundin, Natascha. Wenn man den rechten Kennerblick hatte und in Saft und Kraft stand, wurde man bei ihrem Anblick schlagartig geil. Wie verbarg man seine immer enger werdende Jeans in Dirks Wohnzimmer, wo ich einige Male eingeladen war? Dirk war, so raunte man, gewalttätig und hatte eine niedrige Toleranzschwelle.
Bei einem Drink und einer leckeren Tüte auf seiner Couch, Natascha war in der Küche um uns was zu Essen zu bereiten, wurde er plötzlich sehr ernst und versuchte mich anzusehen: „Schirrmi, kannst Du mir bitte einen Gefallen tun? Du musst mir was versprechen!“. Ähm, ich war auf einen Fausthieb direkt in meine Fresse gefasst und rückte ein wenig ab. Hatte er irgendwie geahnt was für einen Ständer ich jedes Mal hatte, wenn ich seine Freundin sah?
„Du weißt, ich sehe nicht mehr gut und kann mich nicht so richtig um Natascha kümmern wie sie es verdient hat.“ flüsterte Dirk leise. „Äh, ja, klar..“ – mehr fiel mir dazu nicht ein. „Sie ist jung und hübsch und möchte und soll das Leben einer jungen Frau führen, ohne sich einschränken zu müssen.“. Ich dachte mir immer noch nichts dabei. Er weiter: „Ich erblinde und wir alle wissen das. Natascha soll aber ihr Leben genießen und obwohl sie mich liebt und sich nicht beklagt, soll sie normal leben können.“. Puh, ich zündete den abgelegten Drei-Blatt wieder an und nahm einen tiefen Zug während er weitersprach: „Versprich mir, Dich um sie zu kümmern. Mit ihr durch die Wälder und Felder Fahrrad zu fahren, spazieren gehen. Mit ihr das Phantasieland und Zoos zu besuchen. Alles mit ihr zu machen für das ich nicht mehr imstande bin. Kannst Du mir Deine Augen leihen? Kannst Du mir das versprechen? Machst Du das?“. Mein Mund war trocken als ich ihm das alles versprach. Und meine Geilheit war verschwunden. Natascha war seitdem wie eine Schwester für mich. Die Freundin von Dirk.
Dienstagmorgen 6.30 Uhr, ich sah am Hintereingang der Knochenmühle einen Zettel neben der Tür kleben: „Das Verwaltungsgebäude ist nur mit vorheriger Fiebermessung zu betreten. Falls Sie vor 7.30 Uhr Einlass möchten, begeben Sie sich vorher zur Werkspforte.“. Na gut, ich ging trotzdem rein und stempelte in das Zeiterfassungsterminal und wollte die wunderbare, tolle Natursteintreppe hochgehen. Da rief plötzlich eine Damenstimme mit diesem erregend, bestimmenden polnischen Akzent: „Hallo! HALLO!“ Und weiter: „HALLOOOOO! Waren Sie Fiebermessen?“
Nee, war ich nicht. Natürlich nicht. Was interessieren mich Zettel? Ok, weil diese Dame unsere gute „Kaffeeseele“ ist und weil sie immer für Sauberkeit und gut gefüllte Kaffeemaschinen sorgt und weil diese nette und liebevolle polnische Dame trotz ihres Alters (und Cameltoe-Schritt) noch überaus attraktiv ist, ging ich wieder raus, über die Straße, den großen Parkplatz zur Produktionspforte. Dort saß wie immer hinter einer Glasscheibe ein sehr dicker Wachmann in Uniform und ich sprach ihn an „Moin, einmal Fiebermessen, bitte.“. Er wandte seinen Blick nicht vom uralten 2 Zoll Röhren-TV ab, auf dem grade das SAT1 Morgenmagazin lief, und richtete einen Faser durch die Panzerglasscheibe auf meine Stirn und murmelte nachdem das Gerät piepste, „Jajohmrrmmrrok“. Ich nahm das als Bestätigung, dass es mir gut ging, nahm meinen gedachten Hut und schlenderte wieder zurück in das was auch immer Verwaltungsknochenmühlengebäude.
Ein wenig später, nach einer ersten Ziggi, wollte ich wiederum rein und die jetzt anwesende langbeinige Empfangsdame schaute mich erwartungsvoll an. Ich machte ein geiles Gesicht, lächelte und ließ einen lockeren Spruch ab. Ohne auf meine morgendlichen Emotionen einzugehen, hielt sie mir auch einen Faser vor die Stirn, drückte ab, das Ding piepste und sie haucht „41 Grad – Du darfst rein, Schirrmi.“. Ich so: „Dann bin ich ja auf dem Weg der Besserung. Vor einer Stunde hatte ich noch 43 Grad.“. Ich bin so froh! SO FROH! Über meinen Arbeitgeber! Der kümmert sich. Ich könnte juchzen! Nur wir überleben!
Bei mir gibt es nur feinstes Porzellan. Villeroy und Bosch. Nach dem Frühstück verließ ich mein Heim und musste nach dem Feierabend feststellen, dass trotz aller Werbeversprechungen immer noch Schmutz daran klebt. Seit Stunden versuche ich nun die braunen Stellen wegzupinkeln. Kennen Sie das?
Mobilization – Point Omega https://www.youtube.com/watch?v=I3mlrpf5KgY