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Was am Ende übrig bleibt.

Es ist jetzt ein gutes Jahr her, dass mein lieber Bruder verstorben ist. Als „Nachlassverwalter“ habe ich währenddessen alle Geschäftsbeziehungen und Verträge abgewickelt. Bis auf eine ausstehende Nebenkostenabrechnung aus 2022, ist nun alles erledigt und ich nutzte meinen Weihnachtsurlaub, seine Unterlagen zu scannen, zu sichern und anschließend die Papieroriginale zu schreddern. Was am Ende übrig bleibt. weiterlesen

Ein Leben im Dachboden

Im Grunde war Klein-Johi ein netter Mensch. Stets zuvorkommend auch und ohne Hintergedanken zu Menschen die es im Geist anderer Leute wohl nicht verdient hätten. Ihm war ein fröhliches, offenes Wesen zu eigen was sich immer gerne und unausweichlich als Spiegel auf der den Lebensweg zweigenden Menschen Gesichter offenbarte. Wenn man über ihn redete, bescheinigte man Klein-Johi eine ausgesuchte Höflichkeit. Zurückhaltend bei Gesprächen die ihn nichts angingen, Verschwiegenheit allenthalben. Jedoch frohgemut, still und innerlich wunderten sich andere ob man nicht naiv sagen könnte, stolperte er glücklich durch die Welt und öffnete die Herzen nicht nur wenn er, entschuldigen Sie bitte diesen Exkurs, morgens um 4:45 Uhr mit den Amseln um die Wette pfiff. Glockenhell, sein blondes Haar vor Freude werfend, die kleinen Zähnchen blitzend und eine leere Dose Bier hinter sich polternd – nur um sich danach umzusehen ob alles gut, ob es niemanden getroffen hat. Glucksend, lachend vor Glück nahm er jeden in den Arm und steckte an – mit seinem Witz, überbordende Fröhlichkeit. Zu jedem Anlass und auch wenn es keinen gab, machte er einen Purzelbaum, die Kinder, Mütter – ja auch die Katzen, Hunde lachten und versuchten es ihm nachzumachen. Nahm zwei, drei, vier oder mehr Dinge in die Hand und jonglierte wie wild und lachte sich kaputt – auf dem Kopf zur Not ne‘ Narrenkapp.

Er trampte durchs Leben, ließ sich lieben und liebte. Vor allem Letzteres. Es gab kein Hunger, nur manchmal Durst. Er trug einen alten Rucksack und hatte immer eine Dose Bier dabei, die er gerne teilte. Wenn er ein Mädel sah, sprach er sie an und zuckerte sie mit wohlgeformten Worten an bevor er halb kichernd, halb verschämt einen Salto-Rückwärts vollzog, die Hosenknie seiner Jeans schon ganz löchrig. Johi tat nie jemanden weh. Zumindest wollte er das nie.

Ich muss bald umziehen. Ziehe von einem gottverlassenen Nest in ein anderes. Muss meine geliebte Muckelbude aufgeben die alles und noch viel mehr gesehen, erlebt, gehört und gefühlt hat. Sie hat mittlerweile eine Seele – ich war gut und lieb zu ihr, sie auch. Zwar manchmal zickig – aber das ist normal. Das stört mich nicht. Wenn ich sage „kenne ich, weiß Bescheid“, dann gibt es das nicht, auch wenn man bis ins Klein-Klein nachdenken würde – nicht das wieder was ich und mit und unter und über mit der Muckelbude erlebt habe.

Sie sieht grade Scheiße aus. Nicht mehr schön. Schon fast wie ausgeweidet. Ihr Inventar wird nach und nach auseinandergenommen. Ich rede und rede und versuche lieb zu sein, so sanft wie möglich, ich mag es ja auch nicht – bis zur Endreinigung. Ich halte mich auf dem Dachboden auf und lasse runter, lasse alles runter was früher war. Kartons, Kisten. Mit was drinn. Ich predige zu mir: „Schmeiß weg!“ oder „Lass los!“. Alles das was weg ist müssen meine geliebten Umzugshelfe nicht mehr schleppen und ich hätte ein befreiendes Gefühl. Hätte. Es ist schwer. Die Kisten nicht. Sondern der Inhalt. Ein halbes Leben.

In den meisten Kisten fand ich Platinen, Prozessoren, Interfacekarten und dazu Schaltkreisdokumentationen. Alte Software auf Medien zu denen es keine Laufwerke mehr gibt. Alte Studienunterlagen mit schöner, junger und naiver Handschrift. Programmieranweisungen mit meinen Kommentaren, noch ein weiteres Studium, jede Menge Hard- und Software die nur den Kenner nostalgisch werden lassen kann. Ein alter ausgeliehener Lötkolben, Zinn. Alles funktioniert noch, wenn man sich Mühe gibt. Ich hole die Kisten vom Dachboden runter und fühle und schaue und erinnere mich. Und krame weiter und immer weiter runter und mein Leben öffnet sich wie eine Zwiebel und man sieht. Ich sehe wieder was ich mal war.

Ich finde Briefe, Zettel, finde kleine Dinge in meinen jetzt zittrigen Händen und lese und staune. So viele Menschen haben mir was gesagt. Haben mir Andenken geschenkt. Schenkten mir voller Hoffnung ihr Angedenken. Liebevolle Krizzeleien, Gemälde, Gedichte. Hoffnung. Anbetung. Liebe. Zärtlichkeit.

Habe ich das damals wertgeschätzt? Habe ich das damals als das angenommen was es war? Innige Liebesschwüre und Poesie dass sich Goethe schämen müsste wenn er rückblickend seine Zeilen lesen würde.  Habe ich entsprechend lieb reagiert? Oder, Fuck!, habe ich jemanden weh getan trotz der Beweise die Ewigkeiten halten sollten?

Ich räume auf. Es ist schöntraurig und ich verliere mich bewusst und nicht unglücklich in die Vergangenheit. Wir waren früher sowas von liebenswert. Gut. Punk. Und schön. Und dabei toll. Und überaus schön. Innen und Außen. Und selbstbewusst. Wir Kleinen 🙂

Es ist schön diese Fetzen durchzusehen. Ich finde nicht schön dass ich umziehen muss. Aber ansonsten hätte ich diese oder jene Erinnerungen jetzt nicht in meine Finger bekommen.

Ja, ich liebe euch auch.

Euer Klein-Johi